
Mikroplastik-Analytik mit Köpfchen
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5. Juli 2025Biobasierte Produkte vs. Kunststoff-Produkte: Ein kritischer Blick auf Life-Cycle-Assessment und Circular Economy
Die Diskussion um nachhaltige Materialien hat in den letzten Jahren erheblich an Fahrt aufgenommen. Biobasierte Produkte werden oft als die Lösung für unsere Kunststoffprobleme gepriesen, doch ein genauer Blick auf ihre Lebenszyklusanalyse (Life-Cycle-Assessment, LCA) zeigt ein differenzierteres Bild. Um fundierte Entscheidungen zu treffen, müssen wir über den gesamten Lebenszyklus hinweg Nachhaltigkeitsdaten erfassen und kritisch bewerten.
Die Bedeutung vollständiger Life-Cycle-Assessments
Ein Life-Cycle-Assessment ist weit mehr als nur ein Vergleich von Rohstoffen. Es umfasst alle Phasen des Produktlebenszyklus: von der Rohstoffgewinnung über Produktion, Transport und Nutzung bis hin zur Entsorgung oder dem Recycling. Für neue biobasierte Produkte ist diese ganzheitliche Betrachtung besonders wichtig, da nur so eine datenbasierte Abgrenzung zu konventionellen Kunststoffprodukten möglich wird.
Der entscheidende Punkt: Ohne vollständige Nachhaltigkeitsdaten über sämtliche Lebenszyklusphasen bleiben Nachhaltigkeitsversprechen oft nur Marketing-Behauptungen. Unternehmen, die biobasierte Alternativen entwickeln, müssen transparent darlegen, welche Umweltauswirkungen ihre Produkte in jeder Phase des Lebenszyklus haben. Dies schließt Energieverbrauch, Wassernutzung, Landverbrauch, Emissionen und Abfallströme mit ein.
Die Realität biobasierter Produktion: Mehr Chemie als "Bio"
Ein weit verbreiteter Mythos ist, dass biobasierte Produkte ausschließlich aus natürlichen Prozessen entstehen. Die Realität sieht anders aus: Auch biobasierte Produkte benötigen in ihrer Herstellung häufig synthetische Grundmaterialien und komplexe chemische Verfahren. Zwar setzt die Green Chemistry auf nachwachsende Rohstoffe als Basis, doch der Rest ist klassische Chemie und Verfahrenstechnik.
Diese Tatsache mindert nicht automatisch die Nachhaltigkeit biobasierter Produkte, macht aber deutlich, dass auch hier kritische Fragen gestellt werden müssen: Welche Lösungsmittel werden verwendet? Wie energieintensiv sind die Syntheseprozesse? Welche Abfallströme entstehen? Nur mit diesen Daten lässt sich beurteilen, ob ein biobasiertes Produkt tatsächlich nachhaltiger ist als sein konventionelles Pendant.
Was ist Green Chemistry?
Green Chemistry (Grüne Chemie) ist die Art von Chemie, die versucht, Umweltverschmutzung einzudämmen, Energie zu sparen und so möglichst umweltverträglich zu produzieren. Seit 1998 beschreiben zwölf Prinzipien nach Anastas und Warner eine Green Chemistry, die fundamentale Änderungen in allen drei Bereichen fordert:
Verfahrenstechnik-Perspektive:
- Prozessoptimierung: Nutzung von Katalysatoren anstelle von stöchiometrischen Reagenzien und Vermeidung unnötiger Zwischenstufen
- Energieeffizienz: Entwicklung von Verfahren, die bei milderen Bedingungen (niedrigere Temperaturen/Drücke) ablaufen
- Einstufige Synthesen: Reduktion mehrstufiger Reaktionssequenzen auf direkte Synthesewege
Umweltschutz-Perspektive:
- Abfallvermeidung: Reduktion von Abfällen und Einsatz umweltverträglicher Prozesse zur Verminderung der Belastung von Ökosystemen
- Toxizitätsreduktion: Reduktion der Umwelt- und Gesundheitsbelastung durch Chemikalien
- Inhärente Sicherheit: Auswahl von Substanzen, die die Wahrscheinlichkeit für chemische Unfälle von vorneherein minimieren
- Cradle-to-Cradle vs Cradle-to-Grave-Ansatz: Verantwortung über den gesamten Produktlebenszyklus
Grundmaterialien-Perspektive:
- Nachwachsende Rohstoffe: Rohstoffe sollten so erneuerbar wie möglich sein, wenn dies technisch und wirtschaftlich machbar ist
- Biobasierte Feedstocks: Entwicklung pflanzenbasierter Inhaltsstoffe, die fossile Brennstoff-Rohstoffe ersetzen
- Ressourcenschonung: Langfristig tragfähige Nutzung natürlicher Materialien
- Alternative Lösungsmittel: Ersatz gefährlicher Lösungsmittel durch umweltverträgliche Alternativen
Kernprinzip: Green Chemistry ist kein Add-on, sondern eine fundamentale Neuausrichtung der chemischen Industrie, die Nachhaltigkeit bereits in der Designphase von Molekülen, Prozessen und Produkten verankert - jedoch immer noch klassische Chemie und Verfahrenstechnik mit lediglich "grüneren" Ausgangsmaterialien bleibt.
Circular Economy: Große Versprechen, unklare Wege
Besonders problematisch wird es bei der Bewertung biobasierter Produkte im Kontext der Circular Economy. Während das Konzept der Kreislaufwirtschaft überzeugend klingt, stehen wir bei vielen biobasierten Materialien vor einem grundlegenden Problem: Wir kennen die Abbauwege nicht ausreichend und verstehen das Verhalten der Abbauprodukte in der Umwelt nur unzureichend.
Diese Wissenslücken führen zu einem paradoxen Zustand: Produkte werden als umweltfreundlich beworben, weil sie biologisch abbaubar sind, doch gleichzeitig agieren wir planlos, was die tatsächlichen Umweltauswirkungen angeht. Eine systematische Risikobetrachtung, die das Verhalten von Abbauprodukten in verschiedenen Umweltkompartimenten (Boden, Wasser, Luft) untersucht, fehlt oft völlig.
Die Mikroplastik-Frage: Biobasiert ist nicht gleich mikroplastikfrei
Ein besonders brisanter Aspekt wird in der Diskussion um biobasierte Produkte oft übersehen: die Mikroplastikeinträge. Auch biobasierte Kunststoffe können während ihrer Nutzungsphase Mikroplastikpartikel freisetzen – sei es durch Abrieb, Verwitterung oder mechanische Belastung. Diese Partikel unterscheiden sich chemisch von konventionellen Kunststoffen, aber ihre Auswirkungen auf die Umwelt sind noch weniger erforscht.
Betrachtet man die zu erwartenden Mengen, wird das Problem deutlich: Wenn biobasierte Produkte tatsächlich einen signifikanten Marktanteil erreichen sollen, sprechen wir über potenzielle Mikroplastikeinträge im Millionen-Tonnen-Bereich. Die Landwirtschaft allein setzt laut einer NABU-Studie bereits mehr als 13.000 Tonnen Kunststoffe jährlich allein in Deutschland frei, und ein Großteil davon landet direkt im Boden. Mit der Zunahme biobasierter Materialien in der Landwirtschaft – von Mulchfolien bis zu Verpackungen – könnten diese Einträge weiter steigen.
Das Umweltbundesamt warnt zu Recht: Plastik – auch Biokunststoff – darf niemals in der Umwelt landen. Doch die Realität sieht anders aus: Biobasierte Materialien werden oft mit dem Versprechen verkauft, sie seien "umweltfreundlicher", was zu einem nachlässigeren Umgang führen kann.
Mikroschadstoffe: Die unsichtbare Gefahr der Abbauprodukte
Noch gravierender ist die Frage nach den Mikroschadstoffen, die durch Abbauprodukte biobasierter Materialien entstehen können. Ebenso wie bei herkömmlichen Kunststoffen können chemische Zusätze oder ihre Abbauprodukte migrieren, wobei die gesundheitlichen Auswirkungen derzeit nicht verlässlich beurteilt werden können.
Das Problem ist fundamental: "Bio"-Plastik enthält genauso viele unbekannte und teilweise schädliche Chemikalien wie herkömmliches Plastik. Wenn diese Materialien in der Umwelt abgebaut werden, entstehen Abbauprodukte, deren Verhalten und Toxizität weitgehend unerforscht sind. Diese Abbauprodukte können:
- Persistente organische Schadstoffe bilden
- Bioakkumulation in Nahrungsketten verursachen
- Unvorhersehbare Wechselwirkungen mit anderen Umweltchemikalien eingehen
- Langzeiteffekte auf Ökosysteme haben, die sich erst nach Jahren oder Jahrzehnten zeigen
Die Europäische Umweltagentur hat diese Problematik erkannt und betont, dass die Umweltverträglichkeit neuer Kunststoffprodukte kritisch zu bewerten ist. Aus vergleichenden Ökobilanzen wissen wir, dass sich die Umweltauswirkungen nicht wesentlich verbessern, wenn die Rohstoffe biobasiert sind statt fossilbasiert – die Auswirkungen verschieben sich eher.
Der Status quo der biobasierten Kunststoffe
Aktuelle Daten zeigen die Herausforderungen deutlich: Laut dem Circular Economy Report von PlasticsEurope stammten 2024 lediglich 1% der produzierten Kunststoffe aus biobasierten Materialien. Dies verdeutlicht, dass biobasierte Alternativen noch weit davon entfernt sind, eine signifikante Rolle in der Kreislaufwirtschaft zu spielen.
Gleichzeitig arbeiten Forschungseinrichtungen wie das Fraunhofer-Exzellenzcluster Circular Plastics Economy intensiv daran, biobasierte Kunststoffe zu entwickeln, die sowohl in der Umwelt biologisch abbaubar sind als auch bessere Recyclingeigenschaften aufweisen. Doch auch hier zeigt sich: Die Entwicklung nachhaltiger Alternativen ist komplex und erfordert eine ganzheitliche Betrachtung.
Kritische Bewertung ohne pauschale Ablehnung
Diese kritische Analyse soll nicht bedeuten, dass biobasierte Produkte grundsätzlich abzulehnen sind. Vielmehr geht es darum, realistische Erwartungen zu schaffen und die richtigen Fragen zu stellen. Biobasierte Materialien können durchaus Teil der Lösung sein, aber nur wenn:
- Vollständige LCA-Daten vorliegen, die alle Lebenszyklusphasen abdecken
- Transparenz über Produktionsprozesse und verwendete Chemikalien herrscht
- Systematische Risikobetrachtungen für Abbauprodukte durchgeführt werden
- Realistische Bewertungen der Circular Economy-Eigenschaften erfolgen
Notwendige Schritte für eine datenbasierte Zukunft
Um biobasierte Produkte erfolgreich als nachhaltige Alternative zu etablieren, brauchen wir:
- Standardisierte Bewertungsmethoden: Einheitliche LCA-Standards, die speziell auf biobasierte Materialien zugeschnitten sind und alle relevanten Umweltauswirkungen erfassen.
- Langzeitstudien: Systematische Untersuchungen zum Abbauverhalten biobasierter Materialien in verschiedenen Umweltbedingungen über längere Zeiträume, einschließlich der Analyse von Mikroplastikeinträgen und Mikroschadstoffen.
- Transparente Datenbasis: Offene Datenbanken, die es ermöglichen, verschiedene Materialien auf Basis vollständiger Lebenszyklusdaten zu vergleichen, inklusive Daten zu Mikroplastikfreisetzung und Schadstoffpotential.
- Integrierte Risikobetrachtung: Entwicklung von Bewertungsrahmen, die nicht nur die Abbaubarkeit, sondern auch die Auswirkungen der Abbauprodukte und entstehenden Mikroschadstoffe systematisch erfassen.
- Mikroplastik-Monitoring: Etablierung von Überwachungssystemen, die Mikroplastikeinträge aus biobasierten Materialien kontinuierlich erfassen und bewerten.
In Summe: Mehr kritische Differenzierung statt pauschaler Urteile
Die Zukunft liegt weder in der unreflektierten Euphorie für biobasierte Produkte noch in ihrer pauschalen Ablehnung.
Stattdessen brauchen wir eine kritische, datenbasierte Herangehensweise, die sowohl die Chancen als auch die Risiken neuer Materialien ehrlich bewertet – einschließlich der oft übersehenen Aspekte wie Mikroplastikeinträge und Mikroschadstoffe durch Abbauprodukte.
Biobasierte Produkte können einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigeren Zukunft leisten – aber nur, wenn wir sie mit derselben wissenschaftlichen Sorgfalt entwickeln und bewerten, die wir auch bei konventionellen Materialien anwenden sollten. Dies bedeutet: mehr Forschung, mehr Transparenz und weniger Marketing-getriebene Versprechungen.
Die Herausforderung liegt darin, innovative Materialien zu entwickeln, die nicht nur auf dem Papier nachhaltig sind, sondern deren Nachhaltigkeit über den gesamten Lebenszyklus hinweg messbar und verifizierbar ist. Dabei dürfen wir nicht den Fehler machen, neue Umweltprobleme zu schaffen, während wir alte zu lösen versuchen. Nur so können wir sicherstellen, dass die nächste Generation von Materialien tatsächlich zur Lösung unserer Umweltprobleme beiträgt, anstatt diese zu verlagern oder zu multiplizieren.