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15. August 2025PFAS-Verbindungen: Wenn das Toilettenpapier zur unsichtbaren Bedrohung wird
Millionen Menschen nutzen es täglich, ohne zu ahnen, dass sie dabei "Ewigkeitschemikalien" in die Umwelt spülen: Eine aktuelle Studie zeigt, dass handelsübliches Toilettenpapier eine unerkannte Quelle für PFAS-Verbindungen ist – mit weitreichenden Folgen für Mensch und Umwelt.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen zur Toilette und tragen dabei unwissentlich zur globalen Verbreitung von Chemikalien bei, die niemals aus der Umwelt verschwinden werden. Was wie ein Science-Fiction-Szenario klingt, ist längst Realität: Forscher der University of Florida haben in einer bahnbrechenden Studie nachgewiesen, dass Toilettenpapier weltweit PFAS-Verbindungen enthält und diese beim Spülen direkt in die Abwassersysteme gelangen.
Was sind PFAS und warum sind sie so problematisch?
Per- und Polyfluoralkyl-Substanzen (PFAS) sind eine Gruppe von über 10.000 synthetischen Chemikalien, die seit den 1940er Jahren industriell hergestellt werden. Diese Verbindungen werden auch als "Ewigkeitschemikalien" (forever chemicals) bezeichnet, weil sie sich nicht durch normale chemische, physikalische oder biologische Prozesse abbauen. Ihre einzigartigen Eigenschaften – sie sind wasser-, fett- und schmutzabweisend sowie hitze- und chemikalienbeständig – machen sie für die Industrie äußerst wertvoll.
Die Kehrseite dieser nützlichen Eigenschaften ist ihre extreme Persistenz. PFAS können sich in Menschen, Tieren und der Umwelt über Jahre hinweg anreichern. Wissenschaftliche Studien bringen die Exposition gegenüber bestimmten PFAS-Verbindungen mit verschiedenen Gesundheitsproblemen in Verbindung, darunter:
- Erhöhte Cholesterinwerte
- Schwächung des Immunsystems
- Entwicklungsstörungen bei Kindern
- Erhöhtes Krebsrisiko (insbesondere Nieren- und Hodenkrebs)
- Hormonelle Störungen
- Verminderte Impfwirksamkeit
Eine aktuelle Studie der USC Keck School of Medicine, veröffentlicht im Journal of Exposure Science and Environmental Epidemiology, zeigt, dass Gemeinden mit PFAS-kontaminiertem Trinkwasser eine bis zu 33% höhere Inzidenz bestimmter Krebsarten aufweisen.
Die überraschende Entdeckung: PFAS im Toilettenpapier
Die Studie von Jake Thompson und seinem Team an der University of Florida, veröffentlicht in Environmental Science & Technology Letters, brachte eine überraschende Erkenntnis zutage: Toilettenpapier aus aller Welt enthält geringe Mengen an PFAS, insbesondere 6:2 Fluortelomer-Phosphat-Diester (6:2 diPAP), was zur Belastung der Abwassersysteme mit "Ewigkeitschemikalien" beiträgt.
Die Forscher untersuchten Toilettenpapier-Rollen aus Nord-, Süd- und Mittelamerika, Afrika und Westeuropa sowie Klärschlamm-Proben aus US-amerikanischen Abwasserbehandlungsanlagen. Dabei stellten sie fest, dass Toilettenpapier etwa 4% des 6:2 diPAP im Abwasser in den USA und Kanada, 35% in Schweden und bis zu 89% in Frankreich beisteuert.
Wie gelangen PFAS ins Toilettenpapier?
Expert:innen vermuten, dass PFAS während des Herstellungsprozesses ins Toilettenpapier gelangen, möglicherweise durch Zusatzstoffe, die verhindern sollen, dass Papierbrei an den Produktionsmaschinen kleben bleibt. Eine weitere Quelle könnte recyceltes Papier sein, das bereits mit PFAS kontaminierte Fasern enthält.
Besonders beunruhigend: In einer unabhängigen Studie von Mamavation, bei der 17 verschiedene Toilettenpapier-Produkte in einem EPA-zertifizierten Labor getestet wurden, fand man in 24% der Proben Hinweise auf PFAS-Verbindungen. Dabei waren sowohl konventionelle als auch Bambus-Toilettenpapiere betroffen.
Die vielfältigen Anwendungen von PFAS
Um das Ausmaß des Problems zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die schiere Vielfalt der PFAS-Anwendungen. Eine umfassende Übersichtsstudie identifizierte mehr als 200 Anwendungskategorien für über 1.400 verschiedene PFAS-Verbindungen. Diese Chemikalien finden sich praktisch überall:
Industrielle Anwendungen
- Automobilindustrie: Schutz von Kraftstoffleitungen, Dichtungen und Batterien in Elektro- und herkömmlichen Fahrzeugen
- Luft- und Raumfahrt: Störungsfreie Kommunikation vom Cockpit zu Flügeln und anderen Geräten
- Elektronik: Beschichtungen für Leiterplatten und Halbleiter
- Textilien: Wasser-, schmutz- und fleckenabweisende Beschichtungen
Medizinische Anwendungen
PFAS sind essentiell für medizinische Technologien wie Katheter, Stents und Nadeln sowie für transdermale Pflaster zur Medikamentenabgabe. Auch lebensrettende COVID-19-Therapeutika und gängige Medikamente gegen Angst oder Depression enthalten PFAS-Verbindungen.
Verbraucherprodukte
Die Liste der PFAS-haltigen Alltagsprodukte ist erschreckend lang:
- Antihaftbeschichtungen in Kochgeschirr
- Wasser- und schmutzabweisende Kleidung
- Kosmetika (Lippenstift, Mascara, Foundation)
- Lebensmittelverpackungen
- Teppiche und Polstermöbel
- Feuerlöschschäume
Das EU-Verbotsverfahren: Ein Meilenstein im Chemikalienschutz
Angesichts der wachsenden Erkenntnisse über die Risiken von PFAS hat die EU ein beispielloses Regelungsverfahren eingeleitet. Am 7. Februar 2023 veröffentlichte die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) ein umfassendes Dossier über ein Verbot von etwa 10.000 Per- und Polyfluoralkyl-Substanzen.
Der Weg zum Verbot
Die Niederlande arbeiteten an diesem Vorschlag zusammen mit Dänemark, Deutschland, Norwegen und Schweden. Das ultimative Ziel der Beschränkungsvorlage ist ein Verbot der Verwendung dieser Substanzen, um die Risiken für Menschen und Umwelt zu begrenzen.
Die ECHA selbst beschreibt das Beschränkungsdossier als den "bisher umfassendsten Beschränkungsvorschlag unter REACH".
Das Verfahren läuft in mehreren Phasen ab:
- Öffentliche Konsultation (März bis September 2023): Mehr als 5.600 wissenschaftliche und technische Kommentare wurden während der sechsmonatigen Konsultation eingereicht
- Wissenschaftliche Bewertung: Die ECHA-Ausschüsse für Risikobewertung (RAC) und sozioökonomische Analyse (SEAC) prüfen den Vorschlag
- Finale Entscheidung: Die endgültige konsolidierte Stellungnahme der ECHA wird bis Ende 2025/Anfang 2026 erwartet
Herausforderungen und Ausnahmen
Das geplante Verbot stößt jedoch auf erhebliche Widerstände. Ohne zusätzliche umfassende Ausnahmeregelungen ist die Herstellung von Arzneimitteln und deren Wirkstoffen in der EU gefährdet, was das Ziel der offenen strategischen Autonomie untergräbt und europäische Patient:innen Engpässen bei der Versorgung mit pharmazeutischen Produkten aussetzt.
Die während der Konsultation neu identifizierten Anwendungen umfassen Dichtungsanwendungen, technische Textilien, medizinische Anwendungen und Druckanwendungen. Besonders Fluorpolymere, eine Untergruppe der PFAS, sind zu einem Schwerpunkt geworden, da für viele ihrer Anwendungen noch keine Alternativen existieren.
Die globalen Auswirkungen
Die Kontamination durch PFAS ist längst ein globales Problem geworden. Studien zeigen, dass etwa 19 Milliarden Pfund PFAS jährlich direkt in unsere Wasserläufe gespült werden, hauptsächlich durch Produkte wie Toilettenpapier.
Wasserverunreinigung auf globaler Ebene
Die Dimension der PFAS-Kontamination ist erschreckend:
- USA: Eine USGS-Studie schätzt, dass 71 bis 95 Millionen Menschen – mehr als 20% der US-Bevölkerung – möglicherweise auf Grundwasser angewiesen sind, das nachweisbare PFAS-Konzentrationen für ihre Trinkwasserversorgung enthält und eine Analyse der EWG ergab PFAS-Kontaminationen an fast 1.400 Standorten in 49 US-Bundesstaaten
- Europa: Das Forever Pollution Projekt schätzt, dass es etwa 23.000 PFAS-kontaminierte Standorte in Europa gibt,; davon sind etwa 2.300 "Hotspots" mit hohen Verschmutzungsgraden
- Global: Die Universität Birmingham hat in 99% der Proben von abgefülltem Wasser aus 15 Ländern weltweit PFOA und PFOS nachgewiesen.
Besonders problematisch: Wenn Produkte, die PFAS enthalten, wie bestimmte Toilettenpapiermarken, gespült oder auf Deponien entsorgt werden, können diese Chemikalien in den Boden gelangen und das Grundwasser kontaminieren. Kläranlagen können PFAS nicht effektiv entfernen, sodass die Chemikalien in aufbereitetes Wasser und Biofeststoffe gelangen, die als Dünger verwendet werden.
Aktuelle Forschung und Gesundheitsrisiken
Die wissenschaftliche Evidenz zu PFAS-Gesundheitsrisiken wächst kontinuierlich. Eine systematische Evidenzkarte für über 150 PFAS identifizierte mehr als 1.000 Studien, die Gesundheits- oder toxikologische Effekte untersuchten.
Neue Erkenntnisse zu Krebsrisiken
Eine bahnbrechende 2025 veröffentlichte Studie fand heraus, dass PFAS-Kontamination im Trinkwasser zu schätzungsweise 6.864 Krebsfällen pro Jahr beiträgt. Die Studie zeigte geschlechtsspezifische Unterschiede:
- Männer: Höhere Inzidenz von Leukämie sowie Krebs des Urogenitalsystems, Gehirns und Weichgewebe
- Frauen: Höhere Inzidenz von Schilddrüsen-, Mund- und Rachenkrebs sowie Weichgewebekrebs
Auswirkungen auf die Lungengesundheit
Eine aktuelle Übersichtsarbeit fasst die Evidenz für PFAS-Auswirkungen auf die Lungengesundheit zusammen, einschließlich:
- Beeinträchtigte fetale Lungenentwicklung
- Reduzierte Immunfunktion bei Kindern
- Mögliche Verbindungen zu Lungenkrebs
Was können Verbraucher tun?
Angesichts der Allgegenwärtigkeit von PFAS mag die Situation hoffnungslos erscheinen, doch es gibt durchaus Handlungsmöglichkeiten:
Bewusste Produktwahl
- PFAS-freie Alternativen wählen: Beim Kauf von Toilettenpapier sollten Verbraucher auf ungebleichte oder Total Chlorine Free (TCF) Produkte setzen und Bambus- oder recycelte Materialien bevorzugen
- Kosmetika prüfen: Vermeiden Sie Produkte mit "perfluor-", "polyfluor-" und "PTFE" auf dem Etikett
- Wasser- und fleckenabweisende Kleidung meiden: Diese enthält häufig PFAS-Beschichtungen
Wassertestung und -behandlung
- Trinkwasser testen lassen: PFAS können durch Kohlenstofffiltration und Umkehrosmose aus dem Trinkwasser entfernt werden
- Zertifizierte Filtersysteme verwenden: Behandlungssysteme, die von der National Sanitation Foundation zertifiziert sind
Unterstützung regulatorischer Maßnahmen
- Unternehmen auffordern, PFAS aus ihren Produkten zu entfernen
- Politische Initiativen für strengere Regulierung unterstützen
- Bewusstsein für das Thema in Familie und Freundeskreis schaffen
Fazit: Ein nicht mehr ganz so stiller Umweltskandal
Die Entdeckung von PFAS in Toilettenpapier ist mehr als nur eine weitere Umweltschreckensmeldung – sie verdeutlicht exemplarisch, wie tief diese "Ewigkeitschemikalien" bereits in unseren Alltag eingedrungen sind. Während die gefundenen PFAS-Mengen in Toilettenpapier und Abwasser gering waren, zeigt die Studie, dass Toilettenpapier für einige Länder eine Hauptquelle von PFAS in Abwasserbehandlungssystemen darstellt.
Das EU-Verbotsverfahren markiert einen wichtigen Wendepunkt im Umgang mit diesen problematischen Chemikalien. Doch der Weg zu einer PFAS-freien Zukunft wird lang und steinig sein. Die Industrie warnt vor wirtschaftlichen Nachteilen, während Umwelt- und Gesundheitsexperten eine sofortige Abkehr von nicht-essenziellen PFAS-Anwendungen fordern.
Die wissenschaftliche Evidenz zeigt eindeutig: PFAS stellen eine ernsthafte Bedrohung für die menschliche Gesundheit und die Umwelt dar. Die aktuellen Studien zu Krebsrisiken, Immunsuppression und Entwicklungsstörungenunterstreichen die Dringlichkeit des Handelns.
Eines ist klar: Die Zeit des ungehinderten Einsatzes von "Ewigkeitschemikalien" neigt sich dem Ende zu. Die Frage ist nicht mehr, ob PFAS reguliert werden, sondern wie schnell und umfassend dies geschehen wird. Bis dahin spült jeder Gang zur Toilette weiterhin unsichtbare Chemikalien in eine Umwelt, die sie nie wieder loswerden wird.
Weitere Informationen zu PFAS-Regulierung und aktuellen Entwicklungen finden Sie auf den Websites der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA), der US Environmental Protection Agency und des deutschen Umweltbundesamtes.