
Mikroplastik-Regulation
10. Juli 2025
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16. Juli 2025Warum steckt die Politik bezüglich Mikroplastik noch immer im Stau?
Die Europäische Union hat sich ambitionierte Ziele gesetzt: 30% Reduktion der Mikroplastik-Freisetzungen bis 2030 laut Zero Pollution Action Plan von 2021. Doch drei Jahre später offenbart sich eine ernüchternde Realität. Es herrscht eine große Kluft zwischen Ambitionen und Realität. Die Policymaker haben die Werkzeuge noch immer nicht in der Hand, um diese Ziele auch nur annähernd zu erreichen. Die Frage ist nicht mehr, ob wir ein Mikroplastik-Problem haben, sondern warum unsere Regulierungsansätze so fragmentiert und unvollständig bleiben.
Das Regulierungs-Mosaik: Flickwerk statt System
REACH-Verordnung: Der erste, aber unvollständige Schritt
Seit Oktober 2023 gilt die EU-Verordnung 2023/2055, die synthetische Polymer-Mikropartikel in Produkten beschränkt. Das klingt nach einem Durchbruch, ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Diese Regelung erfasst lediglich intentional zugesetzte Mikroplastikpartikel – ein Bruchteil des tatsächlichen Problems.
Was fehlt? Eine umfassende Regulierung der unbeabsichtigten oder unkontrollierte Mikroplastik-Freisetzungen, die den Großteil der Umweltbelastung ausmachen. Industrielle und kommunale Abwässer, Textilien, Reifen, Verpackungen – alles Quellen, die weiterhin nahezu unreguliert bleiben.
Marine Strategy Framework Directive: Der zahnlose Tiger
Die Marine Strategy Framework Directive oder kurz: MSFD von 2008 war weltweit die erste Direktive, die Mikroplastik in der Meeresumwelt thematisierte. Fast 17 Jahre später ist das "Good Environmental Status" für europäische Meere noch immer nicht erreicht. Warum? Weil Monitoring nicht gleich Regulierung ist. Die MSFD definiert Ziele, aber liefert keine verbindlichen Mechanismen zur Emissionsreduktion.
Zero Pollution Action Plan: Ambition ohne Biss
Der Zero Pollution Action Plan von 2021 proklamiert eine 30%ige Reduktion bis 2030. Doch bei genauer Betrachtung entpuppt sich das als Zielsetzung ohne konkrete Umsetzungsstrategie. Wie sollen 30% Reduktion erreicht werden, wenn die Hauptquellen –industrielle Prozesse und kommunale Abwässer – noch immer kaum reguliert sind?
Die Verzögerungstaktik: Wer bremst und warum?
- Die Industrie: Meister der strategischen Langsamkeit
Die Chemie- und Kunststoffindustrie hat perfektioniert, was man als "regulatory capture" bezeichnet. Durch intensive Lobbyarbeit werden Standards verwässert, Übergangszeiten verlängert und Definitionen so eng gefasst, dass große Emissionsquellen außen vor bleiben. Sogar bei der Definition der Partikelgröße gab es kontroverse Diskussionen zwischen 1 nm und 100 nm – wertvolle Zeit, die verloren ging.
- Die Mitgliedsstaaten: Nationale Egoismen statt europäischer Lösungen
Während Deutschland und die Niederlande progressive Ansätze verfolgen, blockieren andere Mitgliedsstaaten mit starken Chemie-Industrien ambitionierte Regulierungen. Das Ergebnis: Der kleinste gemeinsame Nenner wird zur Norm.
- Die Kommission: Gefangen zwischen Ambitionen und Machbarkeit
Die Europäische Kommission navigiert zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Realitäten. Das Resultat sind Kompromisslösungen, die wissenschaftlich unzureichend und praktisch schwer umsetzbar sind.
Was die Policymaker wirklich brauchen
- Holistische Regulierung statt Einzelmaßnahmen
Eine effektive Mikroplastik-Regulierung muss alle Quellen erfassen:
- Extended Producer Responsibility (Erweiterte Herstellerverantwortung) für alle plastikproduzierenden Industrien
- Mandatory Reduction Targets (verbindliche Reduktionsziele) für unbeabsichtigte Emissionen
- Life Cycle Assessment-Pflicht für neue Kunststoffprodukte
- Einheitliche Monitoring- und Messstandards
Trotz der MSFD gibt es noch immer "few recognized approaches for monitoring". Ohne standardisierte Messmethoden sind Regulierungen nicht durchsetzbar.
Wir brauchen:
- EU-weite Monitoring-Protokolle
- Harmonisierte Analysemethoden
- Regelmäßige, verpflichtende Emissionsmessungen
- Ökonomische Anreize statt nur Verbote
Reine Verbote greifen zu kurz. Effektive Politik schafft ökonomische Anreize:
- Plastikmüll-Abgaben nach dem Verursacherprinzip
- Erhöhung der Abwassergebühren bei zu hohen Mikroplastik-Belastungen
- Erhöhung der Abfallgebühren, wenn nicht Circular Economy implementiert und prozessübergreifende Life Cycle Assessments durchgeführt werden
- Innovationsförderung statt Forschungsförderung für Alternativen
- Steuerliche Begünstigungen für plastikfreie Innovationen, wie die Mikroplastik-freie Produktion
- Internationale Koordination
Mikroplastik macht nicht an Grenzen halt. Die EU muss internationale Standards vorantreiben, statt im nationalen Alleingang zu regulieren.
Der Weg nach vorn: Mut zur radikalen Reform
Sofortmaßnahmen (2025-2026)
Die neue Legislaturperiode sollte dringend entscheidende Weichen stellen, dazu gehören:
- Revision der REACH-Verordnung mit Einschluss unbeabsichtigter Emissionen
- Verschärfung der Single-Use Plastics Directive auf weitere Produktkategorien
- Verbindliche Reduktionsziele für alle Mitgliedsstaaten
Mittelfristige Transformation (2027-2030)
- Circular Economy Package 2.0 mit spezifischen Mikroplastik-Zielen
- EU-weites Pfandsystem für Kunststoffverpackungen
- Mandatory Corporate Reporting zu Mikroplastik-Emissionen
Langfristige Vision (2030+)
Bereits jetzt werden Ansätze zur Entfernung von Mikroplastik aus Abwässern entwickelt, aber das reicht nicht. Wir brauchen eine fundamentale Transformation:
- Near-Zero-Emission-Standards für alle Kunststoffanwendungen
- Vollständige Substitution kritischer Anwendungen
- Globale Regulierungsstandards unter EU-Führung
Fazit: Zeit für politischen Mut
Die derzeitige Mikroplastik-Regulierung gleicht einem Flickenteppich aus gut gemeinten, aber unvollständigen Maßnahmen. Während die Wissenschaft längst eindeutige Belege für die Gefährlichkeit von Mikroplastik liefert, verstecken sich Policymaker hinter technischen Definitions-Debatten und Industrie-freundlichen Übergangszeiten.
Die 30%-Reduktionsziel bis 2030 wird mit den aktuellen Maßnahmen nicht erreicht werden. Dazu bedarf es politischen Muts für systemische Reformen, die über kosmetische Korrekturen hinausgehen. Die Frage ist nicht mehr, ob wir handeln müssen, sondern ob wir den Mut haben, der Industrie-Lobby zu widerstehen und evidenzbasierte Politik zu machen.
Die Zeit für halbherzige Kompromisse ist vorbei. Mikroplastik in unseren Ozeanen, unserem Trinkwasser und unseren Körpern wartet nicht auf den nächsten Regulierungszyklus.