
Mikroplastik: Zwischen Panik und Realität
18. Juli 2025
Wasserlösliche Polymere
22. Juli 2025Wenn Mikroplastik nicht unser einziges Problem ist: Die versteckte Gefahr der Leachables
Die öffentliche Debatte um Kunststoffe konzentriert sich meist auf das Sichtbare: Plastikinseln in den Ozeanen, Mikroplastik in Fischen und Trinkwasser. Doch während wir gebannt auf diese winzigen Partikel starren, entgeht uns ein möglicherweise noch gravierenderes Problem – eines, das völlig unsichtbar ist und dennoch täglich auf uns einwirkt.
Die chemische Zeitbombe in unserem Alltag
Leachables – so nennen Wissenschaftler die chemischen Substanzen, die aus Kunststoffen in die Umgebung migrieren. Anders als Mikroplastik handelt es sich dabei nicht um physische Partikel, sondern um gelöste Chemikalien, die kontinuierlich aus Plastikprodukten austreten. Von der Wasserflasche über Lebensmittelverpackungen bis hin zu Spielzeug – überall wo Kunststoff mit anderen Materialien in Kontakt kommt, findet dieser unsichtbare Stoffaustausch statt.
Das Perfide daran: Während Mikroplastik zumindest theoretisch wieder aus dem Körper ausgeschieden werden kann, reichern sich viele Leachables in unserem Gewebe an. Bisphenol A (BPA), Phthalate, Weichmacher und UV-Stabilisatoren wandern nicht nur in unsere Nahrung, sondern auch in unser Hormonsystem.
Die Begriffe Leachables und Leachates werden oft verwechselt und haben unterschiedliche Bedeutungen:
Leachables
- Definition: Substanzen, die potentiell aus einem Material austreten können
- Kontext: Werden in kontrollierten Laborstudien unter extremen Bedingungen (aggressive Lösungsmittel, hohe Temperaturen) bestimmt
- Zweck: Identifizierung aller möglichen migrierbaren Substanzen als "Worst-Case-Szenario"
- Beispiel: Methanolextraktion bei 60°C für 24h zur Bestimmung aller extrahierbaren Chemikalien
Leachates
- Definition: Substanzen, die tatsächlich unter realistischen Bedingungen austreten
- Kontext: Migration unter normalen Gebrauchsbedingungen (z.B. Wasser bei 40°C für 10 Tage)
- Zweck: Bestimmung der realen Exposition unter Alltagsbedingungen
- Beispiel: Was tatsächlich in Ihr Trinkwasser oder Essen übergeht
Praktisches Beispiel
Eine Plastikflasche könnte:
- Leachables: 100 verschiedene Chemikalien unter Laborextremtest freigeben
- Leachates: Nur 20 davon gehen unter normaler Nutzung ins Wasser über
In der Wissenschaft
Die Wagner-Zimmermann-Studien untersuchten beide:
- Erst Leachables (was ist extrahierbar?)
- Dann Leachates (was migriert wirklich?)
Ergebnis: Nicht alle Leachables werden zu Leachates, aber die Leachates sind trotzdem toxisch relevant.
Fazit: Leachables = theoretisches Maximum, Leachates = reale Exposition
Das Ausmaß der chemischen Komplexität
Die Dimension des Problems wird erst sichtbar, wenn wir die schiere Menge der involvierten Substanzen betrachten. Kunststoffe enthalten mehr als 16.000 verschiedene Chemikalien, von denen ein Viertel als gefährlich eingestuft wird. Eine bahnbrechende Studie des norwegischen Forschers Martin Wagner und seines Teams aus dem Jahr 2019 zeigte, dass 74% der untersuchten Plastikprodukte Chemikalien enthalten, die mindestens einen toxischen Endpunkt auslösen, darunter Grundtoxizität (62%), oxidativen Stress (41%) und endokrine Störungen.
Noch alarmierender: Zwischen 17 und 8.681 relevante chemische Verbindungen waren in den Migraten der Alltagsprodukte nachweisbar – das bedeutet, dass zwischen 1 und 88% der in einem Produkt enthaltenen Plastikchemikalien tatsächlich austreten. Die Forschungsgruppe um Wagner konnte dabei nur etwa 8% aller detektierten Substanzen identifizieren, was bedeutet, dass die meisten Plastikchemikalien völlig unbekannt bleiben.
Die wissenschaftlich belegten Gesundheitsrisiken
Die Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit sind weitreichender als lange angenommen. Eine 2024 veröffentlichte Studie in Environmental Science & Technology von Stevens et al. untersuchte Lebensmittelkontaktmaterialien aus fünf Ländern und fand heraus, dass 73% der 15.430 extrahierbaren chemischen Verbindungen auch in Lebensmittelsimulanzien migrieren. Dabei zeigten die Wasser-Ethanol-Mischungen eine ähnliche Toxizitätsprävalenz wie Methanolextrakte.
Besonders alarmierend sind die Befunde zu Phthalaten: Diese als endokrin disruptive Chemikalien (EDCs) klassifizierten Substanzen sind nachweislich schädlich für das Fortpflanzungs-, neurologische und Entwicklungssystem. 100% der US-Bevölkerung weisen messbare Mengen von DEHP (Di(2-ethylhexyl)phthalat) auf – einem der häufigsten Phthalate. Studien zeigen Zusammenhänge mit erhöhtem Blutdruck, Adipositas, gestörter Spermatogenese und vorzeitiger Pubertät.
Eine 2018 in Scientific Reports veröffentlichte Studie demonstrierte, dass bereits die Exposition gegenüber Phthalaten im ersten Schwangerschaftstrimester das plazentale Methylom und Transkriptom verändert – mit potenziell lebenslangen Folgen für die Nachkommen.
In aquatischen Ökosystemen sind die Auswirkungen ebenfalls dramatisch: Eine Nature-Studie von 2019 zeigte, dass Plastik-Leachables das Wachstum und die Sauerstoffproduktion von Prochlorococcus – dem häufigsten photosynthetischen Organismus der Erde – stark beeinträchtigen. Was in Laborstudien als "niedrige Konzentration" gilt, kann in der Realität durch den Cocktail-Effekt – das Zusammenwirken verschiedener Chemikalien – verheerende Folgen haben.
Neue EU-Regulierung: Fortschritte und Lücken
Hier offenbart sich ein fundamentales Problem unserer Chemikalienregulierung: Während für Mikroplastik mittlerweile Grenzwerte diskutiert werden, hinkt die Gesetzgebung bei Leachables dramatisch hinterher – obwohl sich dies gerade grundlegend ändert.
Meilenstein BPA-Verbot: Am 20. Januar 2025 trat die neue EU-Verordnung 2024/3190 in Kraft, die BPA und andere Bisphenole in Lebensmittelkontaktmaterialien weitgehend verbietet. Nach einer wissenschaftlichen Neubewertung der EFSA vom April 2023 wurde der tolerierbare tägliche Aufnahmewert (TDI) für BPA um das 20.000-fache reduziert – von 4 auf 0,0002 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht. Die neue Verordnung setzt strenge Migrationsgrenzwerte: BPA darf nur noch in nicht nachweisbaren Mengen (Nachweisgrenze: 1 μg/kg) in Lebensmittel übergehen.
Verschärfte Plastikregulierung: Parallel dazu bringt die EU-Verordnung 2025/351 strengere Reinheits- und Migrationsgrenzwerte für Kunststoff-Lebensmittelkontaktmaterialien. Unternehmen müssen bis September 2026 sicherstellen, dass ihre Materialien Hochreinheitsanforderungen erfüllen und umfassende Migrationstests durchlaufen.
Deutsche Implementierung: In Deutschland wird dies durch das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) und die Bedarfsgegenständeverordnung umgesetzt. Die Verordnung enthält seit 2021 eine Positivliste für Druckfarben(Anlage 14 BedGgstV), die nur vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) befürwortete Stoffe zulässt.
Dennoch sind die Regulierungslücken gravierend: Zwar sind einzelne Substanzen wie BPA in manchen Produkten verboten, doch die Industrie weicht oft auf chemisch ähnliche, aber weniger erforschte Alternativen aus. Die Beweislast ist verkehrt: Nicht die Industrie muss die Unbedenklichkeit neuer Additive beweisen, sondern die Wissenschaft muss deren Schädlichkeit nachweisen – ein Prozess, der Jahre dauert.
Innovation als Ausweg?
Hoffnung macht die Entwicklung neuer Materialien. Biobasierte Kunststoffe und innovative Barriereschichten könnten das Problem der Leachables künftig reduzieren. Doch auch hier ist Vorsicht geboten: Nicht alles, was "bio" heißt, ist automatisch unbedenklich. Manche pflanzlichen Additive können ebenfalls problematische Eigenschaften aufweisen.
Vielversprechender erscheinen geschlossene Kreislaufsysteme, in denen Verpackungen komplett vermieden oder durch mechanische Alternativen ersetzt werden. Unternehmen wie Loop oder lokale Unverpackt-Läden zeigen, dass es auch ohne den permanenten Kontakt mit Leachables geht.
Was jetzt zu tun ist
Das Problem der Leachables erfordert ein radikales Umdenken. Solange wir uns nur auf das sichtbare Mikroplastik konzentrieren, verpassen wir die eigentliche Herausforderung. Wir brauchen:
Schärfere Regulierung: Präventionsprinzip statt Schadensbegrenzung. Neue Additive sollten erst nach umfassender Sicherheitsprüfung zugelassen werden. Das REACH-System der EU muss konsequent auf alle Plastikadditive ausgeweitet werden.
Transparenz: Vollständige Deklaration aller Zusatzstoffe in Kunststoffprodukten, damit Verbraucher:innen informierte Entscheidungen treffen können. Die aktuellen Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 reichen nicht aus.
Forschung: Massive Investitionen in die Erforschung von Leachables und deren Langzeitfolgen, sowie in die Entwicklung sicherer Alternativen. Das PlastChem-Projekt unter Wagner zeigt, wie systematische Charakterisierung aussehen kann – dies muss global ausgeweitet werden.
Bewusstsein: Die öffentliche Debatte muss über Mikroplastik hinausgehen und die chemische Dimension der Plastikverschmutzung einschließen.
Sofortmaßnahmen für Verbraucher:
- Vermeidung von PVC-Produkten (Recycling-Code #3) und "anderen Kunststoffen" (#7)
- Reduzierung von Plastikverpackungen bei Lebensmitteln
- Verzicht auf Parfüm-haltige Produkte, die Phthalate enthalten können
- Nutzung von Glasverpackungen für heiße Lebensmittel
Fazit: Die unsichtbare Krise
Mikroplastik ist nur die Spitze des Eisbergs. Die wahre Plastikkrise spielt sich auf molekularer Ebene ab – unsichtbar, aber umso gefährlicher. Während wir uns über Plastikstrohhalme aufregen, konsumieren wir täglich einen Cocktail aus Leachables, dessen Langzeitfolgen noch nicht absehbar sind.
Die neue EU-Gesetzgebung zu BPA ist ein wichtiger Schritt, aber nur der Anfang. Es ist Zeit, den Blick zu weiten und das Problem Kunststoff in seiner ganzen Komplexität anzugehen. Denn solange wir nur auf das schauen, was wir sehen können, übersehen wir möglicherweise die größere Bedrohung – eine, die bereits in unseren Körpern angekommen ist.