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9. August 2025Der Reifenabrieb-Mythos: Warum wir das Mikroplastik-Problem größer denken müssen
Es ist ein Narrativ, das sich hartnäckig hält: Reifenabrieb sei die größte Quelle von Mikroplastik in unserer Umwelt. Diese Behauptung wird oft unreflektiert wiederholt und hat sich zu einem modernen Umwelt-Mythos entwickelt. Doch die Realität ist komplexer und viel facettenreicher, als es diese vereinfachte Darstellung vermuten lässt.
Die Zahlen hinter dem Mythos
Ja, Reifenabrieb ist zweifellos eine bedeutende Quelle von Mikroplastik. Das Umweltbundesamt schätzt, dass in Deutschland jährlich etwa 100.000 bis 150.000 Tonnen Reifenabrieb entstehen. Diese Menge entspricht ungefähr einem Drittel der gesamten Mikroplastik-Emissionen in Deutschland – eine beträchtliche, aber keineswegs dominierende Menge.
Die Verwirrung entsteht durch die Art, wie diese Statistiken präsentiert werden. Oft wird Reifenabrieb als "größte Einzelquelle" bezeichnet, was technisch korrekt sein mag, aber ein verzerrtes Bild der Gesamtsituation zeichnet. Es ist, als würde man behaupten, dass Äpfel die häufigste Frucht im Obstkorb sind, während man Zitrusfrüchte, Beeren und Steinobst getrennt zählt.
Die übersehenen Hauptverursacher
- Textilien: Der unsichtbare Riese
Synthetische Textilien sind eine der am meisten unterschätzten Quellen von Mikroplastik. Bei jedem Waschgang lösen sich Tausende von Mikrofasern aus unserer Kleidung. In Europa werden jährlich 500 bis 2.500 Tonnen synthetische Mikrofasern aus Textilien freigesetzt – und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Weltweit dürften die Mengen um ein Vielfaches höher liegen: Schätzungen zufolge werden allein bei der Nassverarbeitung von Textilien bis zu 6,4 kt Mikroplastik freigesetzt. Das Besondere an textilen Mikrofasern: Sie sind oft so fein, dass herkömmliche Kläranlagen sie nicht vollständig herausfiltern können. Sie gelangen direkt in Flüsse, Seen und Meere. Zudem tragen wir diese Partikel buchstäblich am Körper – sie lösen sich nicht nur beim Waschen, sondern auch beim Tragen durch Reibung.
- Verpackungen: Das Offensichtliche wird übersehen
Mehr als ein Drittel aller weltweit hergestellten Kunststoffe entfallen auf Verpackungen. Durch UV-Strahlung, mechanische Belastung und chemische Prozesse zerfallen diese Verpackungen kontinuierlich zu Mikroplastik. Besonders problematisch sind Einwegverpackungen, die oft nur kurz genutzt, aber jahrzehntelang in der Umwelt verbleiben. Die Fragmentierung von Plastikverpackungen erfolgt meist unbemerkt: Eine weggeworfene Plastikflasche wird über Jahre hinweg zu Millionen von Mikropartikeln. Diese schleichende Transformation macht es schwer, das wahre Ausmaß dieser Quelle zu erfassen.
- Kosmetik: Klein aber oho
Obwohl Kosmetik mengenmäßig nicht zu den Hauptquellen gehört, ist sie besonders problematisch, weil Mikroplastik hier bewusst eingesetzt wird. Peelings, Zahnpasten, Shampoos und Make-up enthalten oft Mikroplastikpartikel, die direkt über das Abwasser in die Umwelt gelangen. Auch das „Glitzerverbot“ sorgt nicht dafür, dass dieser Eintragspfad verschwindet.
Warum hält sich der Reifenabrieb-Mythos so hartnäckig?
Einfache Botschaften sind eingängiger
"Autos sind schuld am Mikroplastik" ist eine einfache, verständliche Botschaft. Sie passt in unsere mentalen Kategorien von Umweltverschmutzung und Verkehrsproblemen. Die komplexe Realität multipler Quellen ist schwerer zu kommunizieren und zu verstehen.
Sichtbarkeit vs. Realität
Reifenabrieb ist physisch sichtbar – schwarze Streifen auf der Straße, Gummipartikel am Straßenrand. Mikroplastik aus Textilien oder zerfallenden Verpackungen ist hingegen unsichtbar. Wir nehmen tendenziell das als größeres Problem wahr, was wir sehen können.
Medialer Fokus
Studien über Reifenabrieb werden oft prominent beworben, weil sie sich gut in Narrativen über Verkehr und Mobilität einbauen lassen. Forschung zu textilen Mikrofasern oder Verpackungsfragmentierung erhält weniger mediale Aufmerksamkeit, obwohl sie gleichermaßen relevant ist.
Industrielle Interessen
Es ist kein Zufall, dass bestimmte Industrien den Fokus gerne auf andere Bereiche lenken. Während die Automobilindustrie für Reifenabrieb kritisiert wird, bleiben Textil- und Verpackungsindustrie oft unter dem Radar.
Die Gefahr der Vereinfachung
Die Fokussierung auf Reifenabrieb als Hauptverursacher ist nicht nur faktisch unvollständig, sondern auch strategisch problematisch. Sie führt zu unvollständigen Lösungsansätzen:
- Tunnelblick bei Regulierung: Wenn nur Reifenabrieb im Fokus steht, bleiben andere Quellen unreguliert
- Fehlallokation von Ressourcen: Forschungsgelder und Innovationskraft werden einseitig auf ein Problem konzentriert
- Verbraucher-Verwirrung: Menschen glauben, sie hätten das Problem gelöst, wenn sie weniger Auto fahren
E-Fahrzeug vs. Verbrenner: Mikroplastik-Eintrag
Gewicht als Schlüsselfaktor: Elektroautos sind durch schwere Batterien oft 200-400 kg schwerer als Verbrenner. Das höhere Gewicht führt zu verstärktem Reifenabrieb und damit mehr Mikroplastik-Freisetzung.
Reifenabrieb-Vergleich
- Leichte E-Autos (< 1.500 kg): ~10% weniger Feinstaub als Verbrenner
- Schwere E-Autos (> 2.000 kg): bis zu 8% mehr PM2.5-Feinstaub
- Durchschnitt: ~120g Reifenabrieb pro 1.000 km
Zusätzliche Faktoren: Hohes Drehmoment bei E-Autos verstärkt Abrieb beim Anfahren. Ein 325 kg schwereres Fahrzeug erzeugt etwa 36% mehr Reifenabrieb-Emissionen.
Fazit: Fahrzeuggewicht beeinflusst Mikroplastik-Eintrag stärker als Antriebsart.
Forschungsansatz Straßenkehricht und Straßenabflüsse
Die verfügbaren Daten zum Mikroplastikgehalt in Straßenkehricht und Straßenabflüssen sind begrenzt.
Straßenkehricht enthält verschiedene Quellen von Mikroplastik, hauptsächlich aus Verkehrsquellen. Pkw-Reifen machen 88 Prozent der Reifenabriebe aus, Lkw-Reifen acht Prozent Mikroplastik, und diese Reifenabriebe sind eine der Hauptquellen für Mikroplastik im Straßenkehricht. Konkrete Mengenangaben zum Mikroplastikgehalt im Straßenkehricht sind jedoch schwer zu finden. Die Studien fokussieren sich meist auf die Gesamtmenge des Straßenkehrichts - in Deutschland pro Einwohner und Jahr in Mengen von 13 kg Straßenkehricht - oder auf die Belastung in anderen Umweltkompartimenten.
Schaut man sich Straßenabfluss genauer an, so findet man auch hier eine komplexe Mischung verschiedener Schadstoffe, die durch den Straßenverkehr und Umwelteinflüsse entstehen. Schwermetalle bilden einen Hauptanteil der Belastung. Die Schwermetall-Gesamtgehalte für Zink, Kupfer und Blei liegen im typischen Konzentrationsbereich von Straßenabflüssen mit hohen partikulären Anteilen (zwischen 77 und 91 Prozent). Diese stammen hauptsächlich aus Reifenabrieb, Bremsbelägen und Korrosion von Fahrzeugteilen.
Organische Schadstoffe umfassen verschiedene Verbindungen aus dem Verkehrsbereich. Dazu gehören polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) aus Verbrennungsprozessen, sowie polychlorierte Biphenyle (PCB) und extrahierbare halogenierte Kohlenwasserstoffe (EOX).
Weitere Bestandteile sind Mineralöle, Kraftstoffrückstände, Streusalz, Reifenabrieb mit seinen chemischen Zusätzen und Mikroplastikpartikel. Hinzu kommen atmosphärische Depositionen wie Ruß und Staub.
Die Zusammensetzung variiert je nach Verkehrsaufkommen, Witterung und Straßentyp erheblich. Die Verschmutzung hängt von der Nutzung der Flächen ab, die an die Entwässerung angeschlossen sind. Besonders problematisch ist, dass viele Schadstoffe mit Partikeln assoziiert in den Kanalsystemen transportiert und damit in die Oberflächengewässer eingetragen werden.
Problem Standardisierte Mikroplastik-Analytik für die Straßenkehricht- und Straßenabfluss-Analytik
Eine der größten Herausforderungen in die Mikroplastikanalytik ist nach mehr als zwei Jahrzehnten Forschung nach wie vor die vergleichbare und kostengünstige Detektion von Mikroplastik. Mikroplastik ist ein Sammelbegriff und fasst tausende von Polymeren mit verschiedensten chemischen Zusammensetzungen und verschiedensten Eigenschaften, Formen und Farben zusammen.
Die von Wasser 3.0 entwickelten Fluoreszenzmarker ermöglichen das selektive Anfärben von Mikroplastik in Umweltproben, wodurch es einfach und kostengünstig mittels Fluoreszenzmikroskopie detektiert werden kann. Erfasst wird die Gesamtheit allen Mikroplastiks. Dies ermöglicht eine Detektion in einem einfachen Messprozess, ohne teure Messgeräte und mit hohem Probendurchsatz. So können standardisierte, vergleichbare Daten gesammelt werden und Umweltexpositionen abgeleitet werden.
Wir graben tiefer für sinnstiftende Lösungen
Unsere aktuelle Forschung zeigt, dass Straßenkehricht und Autobahnabflüsse neben organischen Materialien auch Mikroplastik in Form von Kunststoffgranulaten bis zu drei Millimeter Größe sowie andere Kunststoffpartikel wie Zigarettenfilter und Verpackungsreste enthalten.
Daraus besteht ein Autoreifen
Ein Autoreifen ist ein komplexes Chemieprodukt, darunter bis zu zwölf verschiedenen Kautschukarten. Hauptsächlich aus Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR), enthält er auch Ruß als Verstärkung, Schwefel für die Vulkanisation, Weichmacheröle, Antioxidantien gegen Alterung und verschiedene Chemikalien für bessere Haftung. Die chemische Industrie liefert zahlreiche Bestandteile für Verschleiß- und Alterungsbeständigkeit.
Die genaue Konzentration von Mikroplastik im Straßenkehricht variiert stark je nach Verkehrsaufkommen, Straßentyp und lokalen Gegebenheiten. Für präzise Werte wären spezifische Analysen des Straßenkehrichts und Gewässer in Ihrer Region erforderlich.
Der Startschuss für mehr Wissen: Mikroplastik Mapping und Global Map of Microplastics.
Und so können Sie loslegen: Fordern Sie noch heute unser Analytik-Kit an und wir gehen gemeinsam auf Spurensuche zu Mikroplastik.
Die Herausforderung Fluoreszenzfärbung von Reifenabrieb
Die vielfältige Zusammensetzung der Autoreifen stellt die Detektion dieser vor eine besondere Herausforderung. Besonders die schwarze Farbe, welche zu Quenching (deutsch: Fluoreszenzlöschung) führt, bring die derzeitigen Fluoreszenzmarker an ihr Limit. Hier arbeitet Wasser 3.0 an der Entwicklung und Validierung neuer Fluoreszenzmarker und -kombinationen, welche eine zuverlässige Detektion von Reifenabrieb ermöglichen.

Lichtmikroskopische Aufnahmen von Reifenabriebpartikeln ©Wasser 3.0

Fluoreszenzaufnahmen von Reifenabriebpartikeln ©Wasser 3.0
Ein ganzheitlicher Blick ist nötig
Mikroplastik ist ein systemisches Problem, das systemische Lösungen erfordert. Statt einzelne Schuldige zu suchen, müssen wir das gesamte Spektrum der Quellen betrachten:
- Textilien: Richtige Einstellungen beim Waschen, nachhaltigere Fasern, bewussteres Waschverhalten
- Verpackungen: Kreislaufwirtschaft, Verzicht auf Verbundmaterialien, biologisch abbaubare Materialien, Mehrwegsysteme
- Kosmetik: Regulierung von Mikroplastik-Zusätzen, natürliche Alternativen – erste Schritte sind gemacht, weitere müssten folgen, auch in Bezug auf wasserlösliche Polymere
- Reifenabrieb: Laufzeitverlängerung, weniger Chemie, dafür mehr innovative Materialien, effizientere Straßenreinigung, alternative Mobilität
Mit Blick auf den Reifenabrieb liegt unserer Meinung nach die Lösung nicht im Mikroplastikfilter und dem Nachrüsten aller Straßenabläufe und Gullideckel. Warum? Zu teuer, zu aufwendig, zu wartungsintensiv.
Vielmehr sollte man den gesamten Reifen als Chance sehen, durch verantwortungsvolle Materialkompositionen und Laufzeitverlängerungen zukünftig den Abrieb zu verringern und den Abfallberg durch Altreifenentsorgung maßgeblich nach unten zu schrauben.
Damit würde man einerseits der Umwelt einen großen Dienst erweisen, weil man nicht nur Mikroplastikeinträge, sondern den gesamten Chemikaliencocktail in der Umwelt reduziert. Und andererseits ergeben sich gewinnbringende neue Wege für sozial-ökologische Transformation mit viel Potential für Unternehmen mit rein wirtschaftlichen Interessen.
Fazit: Komplexe Probleme brauchen differenzierte Lösungen
Der Mythos vom Reifenabrieb als Hauptverursacher von Mikroplastik zeigt, wie gefährlich Vereinfachungen bei komplexen Umweltproblemen sein können. Er lenkt von anderen, ebenso wichtigen Quellen ab und verhindert ganzheitliche Lösungsansätze.
Die Wahrheit ist: Mikroplastik entsteht überall dort, wo Kunststoffe genutzt werden – und das ist nahezu überall in unserer modernen Gesellschaft. Nur wenn wir diese Komplexität anerkennen und alle Quellen gleichzeitig angehen, können wir das Problem wirklich lösen.
Es ist Zeit, über den Tellerrand der einfachen Erklärungen hinauszublicken und die Mikroplastik-Problematik in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu verstehen. Denn nur so entwickeln wir Lösungen, die der Dimension des Problems gerecht werden.